Die südkoreanische Flagge

 

Zitat aus einem Vorwort zum Tagebuch "Kriegsspielzeug" von Luise Rinser

An Hand der südkoreanischen Flagge kann ich am besten erklären, was ich gelernt habe: Der Untergrund ist weiß. Ist Weiß eine Farbe? Ist es nicht gerade die Abwesenheit von Farbe? Tatsächlich aber ist Weiß die Summe aller Farben. Indem es alle Farben enthält, ist Weiß die Fülle. Indem es keine Farbe hat, ist es die Leere. Weiß ist die Farbe für ALLES und die Farbe für NICHTS. So ist es beides: Die Fülle UND die Leere. Und so ist es das GANZE und das EINE. Weiß ist die Farbe der Einheit, der Versöhnung, des Friedens. 

 

Auf diese weiße Grundfläche ist ein Kreis gesetzt. Der Kreis ist das in sich geschlossene Ganze, das weder Anfang noch Ende hat und an jedem seiner Punkte gleich ist und gleich gilt. Der Kreis ist das Rad. Das Rad ist das Symbol für Bewegung. Das schnell sich drehende Rad erscheint als weiße Kreisfläche. 

 

Die Kreisfläche ist zweigeteilt. Die Teile sind fischartig und deckungsgleich. Ein Teil ist rot, der andere ist blau. Rot ist die Symbolfarbe für das Männliche, Blau die fürs Weibliche. In der Sprache des alten China: Blau ist das Yin, Rot das Yang. Yin und Yang sind die Grundprinzipien des Lebens. Es sind die Pole, zwischen denen alles Seiende liegt. Alles was ist, ist entweder das Eine oder das Andere. Aber: Keines kann sein, was es ist, ohne dass das Andere wäre. Beides zusammen ist das Ganze. Eines ist nur durch das Andere, was es ist. Der Tag ist der Tag, weil es die Nacht gibt. Das Leben ist Leben, weil es den Tod gibt. Was ist wichtiger und mehr wert. Der Tag oder die Nacht? Das Leben oder der Tod? Alle Wertungen sind nur menschlich, nur vorübergehend, treffen nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist das GANZE. 

 

Yang und Yin erscheinen als Gegensätze, jedoch sind sie es nicht. Der Tag ist nicht der Gegensatz zur Nacht, er ist vielmehr die notwendige Ergänzung, der andere Pol. Der negative Pol des Magneten ist nicht der Feind des positiven. Mit ihm zusammen erst ist er, was er ist: Magnet. Aller Dualismus ist scheinbar und nicht wirklich. Es gibt nur Polaritäten. Mit Ausdrücken der westlichen Philosophie gesprochen: Es gibt nur Dialektik. Die These heißt: Alles ist EINS. Die Antithese heißt: Alles muss ZWEI sein, weil alles zwei Pole braucht, denn ohne Polarität ist keine Spannung, ohne Spannung kein Leben. Die Synthese heißt: Indem etwas zwei Pole hat, ist es EINS und ein GANZES. 

 

In der mittelalterlichen Philosophie sprach man von der coincidentia oppositorum, dem Zusammenfallen der Widersprüche in EINEM (nämlich dem, was man Gott nennt). Die Alchimisten sprachen von der coniunctio oppositorum, der Hochzeit der Widersprüche. Jedes Seiende hat seinen anderen Pol in sich. aus Einem wird das Andere. Alles, was ist, ist in unaufhörlicher Bewegung, alles fließt, alles verwandelt sich in sein "Gegenteil". Bei der Geburt beginnt die Verwandlung des Lebens in den Tod, am Morgen beginnt der Abend, in der faulenden Frucht ist der Keim zu neuem Leben. 

 

Eulenspiegel weint, wenn er bergab geht, weil er weiß, er muss dann bergauf steigen. Beim Berg aufsteigen lacht er, denn er denkt ans bequeme Berg absteigen. Nichts ist, was es scheint, nichts bleibt, was es ist. Ist diese Erkenntnis nicht tragisch? Ist es nicht ein Sisyphusleben, nichts behalten zu dürfen, was man errafft hat mit Mühe? Nein! Nur wer meint, festhalten zu können, leidet. Wer sich in den Strom wirft, wird getragen. Wer weiß, dass nichts dauert, hält sich an die Wandlung. 

 

Das ist die Lehre des TAO, der chinesischen Philosophie, dargestellt auf der koreanischen Flagge. Es ist aber auch die Lehre der Vorsokratiker, es ist auch die Lehre des Christus Jesus. "Der Vater" bewegt das Seiende. Wer sich ihm überlässt, ist im Sein. 

 

Und wozu dient diese Erkenntnis? In Sammlungen jüdischer Witze gibt es einen, der ganz und gar keiner ist, sondern nur eine chassidische Weisheit: Einer kommt zum Rabbi und erzählt ihm von seinem Streit mit einem anderen. Der Rabbi sagt: "Hast Recht." Dann kommt der Andere und erzählt von der nämlichen Sache. Der Rabbi sagt: "Hast Recht." Das hört ein Dritter, der sagt: "Aber Rabbi, Ihr könnt doch nicht zu diesem und zu jenem sagen, er habe Recht!" Der Rabbi sagt: "Hast auch Recht." 

 

Jemand, etwas, hat für einen Augenblick der Geschichte Recht. Im nächsten schon ist es anders. Das zu wissen entbindet zwar nicht vom Handeln, aber es nimmt dem Handeln die kurzsichtige aggressive Rechthaberei.

 

 

Marion Lampert-Gruber

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