Das Märchen von der traurigen Traurigkeit

 

nach Inge Wuthe - Gestalttherapeutin www.inge-wuthe.de

Es war einmal eine kleine Frau, die einen staubigen Feldweg entlang lief. Sie war offenbar schon sehr alt, doch ihr Gang war leicht und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens. Bei einer zusammengekauerten Gestalt, die am Wegrand saß, blieb sie stehen und sah hinunter. Das Wesen schien fast körperlos. Es erinnerte an eine graue Decke mit menschlichen Konturen. Die kleine Frau beugte sich zu der Gestalt hinunter und fragte: "Wer bist du?" Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. "Ich? Ich bin die Traurigkeit," flüsterte die Stimme stockend und so leise, dass sie kaum hörbar war.

"Ach die Traurigkeit!" rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte Bekannte begrüßen. "Du kennst mich?" fragte die Traurigkeit misstrauisch. "Natürlich kenne ich dich! Immer wieder einmal hast du mich ein Stück des Weges begleitet." "Ja aber, warum flüchtest du dann nicht vor mir?" argwöhnte die Traurigkeit. "Hast du keine Angst?" "Warum sollte ich vor dir davon laufen, meine Liebe? Du weißt doch selber nur zu gut, dass du jeden Flüchtigen einholst. Aber was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?"

"Ich bin traurig", sagte die graue Gestalt. Die kleine, alte Frau setzte sich zu ihr. "Traurig bist du also", sagte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. "Erzähl' mir doch, was dich bedrückt." Die Traurigkeit seufzte tief. "Ach weißt du", begann sie zögernd und auch etwas verwundert darüber, dass ihr tatsächlich jemand zuhören wollte, "es ist so, dass mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest." Die Traurigkeit schluckte schwer. "Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: Papperlapapp, das Leben ist heiter! Und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: Man muss sich halt zusammen reißen! Und sie spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: Nur Schwächlinge weinen! Und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen." "Oh ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir auch schon oft begegnet." Die Traurigkeit sank noch ein bisschen tiefer in sich zusammen.

"Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selber begegnen. Ich helfe ihnen ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf, wie eine schlecht verheilte Wunde und das tut sehr weh. Aber nur, wer die Trauer zu lässt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen.

Doch die Menschen wollen gar nicht, dass ich ihnen dabei helfe. Stattdessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu." Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schließlich ganz verzweifelt. Die kleine. alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in die Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlt, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel.

"Weine nur, Traurigkeit", flüsterte sie liebevoll, "ruh' dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr Macht gewinnt." Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin. "Aber - wer bist eigentlich du?" "Ich, sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd. "Ich bin die Hoffnung."

Marion Lampert-Gruber

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