Zeichen des Lebens

Alles ist wertvoll

Als ich den folgenden Text zunächst nur auf Facebook teilte, bekam dieser eine große und positive Resonanz. Aus den Kommentaren konnte ich erkennen, wie sehr Frauen sich aus unterschiedlichen Gründen davon angesprochen fühlten. Dabei kann ich mir gut vorstellen, dass auch Männer mitunter solche Erfahrungen machen. Leider brauchen wir oft gar keinen "Dave", um uns beim kritischen Blick in den Spiegel "Schmerz und Horror" zu bereiten.

Robin Korth: Soul of the Run

Nackt stand ich vor den Türen meines Kleiderschrankes. Das Licht war an und ich machte mich bereit. Ich atmete tief ein und positionierte die Spiegel so, dass ich alles an mir sehen konnte. Ich strengte mich an, das Bild loszuwerden, das ich im Inneren von mir selbst hatte.

 

Ich öffnete die Augen und schaute meinen Körper ganz genau an. Und mein Herz verkrampfte sich, als ich die Wahrheit erkannte. Ich bin keine junge Frau mehr. Ich bin eine Frau, die gelebt hat. Mein Körper erzählt von all den Jahren, die er meine Seele durch das Leben getragen hat. Ich bin eine 59-jährige Frau bei guter Gesundheit und in guter Form. Ich bin 1,75 Meter groß und wiege 61 Kilogramm. Ich trage Jeans und Unterhosen in Größe 36 und meine Brüste hängen nicht in der Nähe meines Nabels. Tatsächlich fülle ich immer noch kaum einen BH mit der Körbchengröße B. Meine Schenkel sind nicht mehr seidenglatt und mein Hintern hat Dellen. Meine Oberarme schwabbeln ein wenig und meine Haut zeigt Spuren der Sonne. Mein Bauch ist ein bisschen weich, nicht mehr so straff wie früher. Die Narbe an meinem Bauch zeugt von einem Kaiserschnitt, der ihm seine perfekte Bikini-Form nahm aber mir einen Sohn schenkte.

 

Warum untersuchte ich mich so genau? Es ist Zeit, dem zerstörerischen Bild der Gesellschaft und meiner eigenen Angst zu begegnen. Und meine eigene Seele mit Wärme zu überschütten. Es ist Zeit, zu jeder Besonderheit und zu jedem nicht perfekten Zentimeter meines Körpers zu stehen - ein Körper, den ein Mann "zu faltig" nannte, der offenbar von meiner Energie und meinem Geist beeindruckt war, dem aber die nackte Wahrheit über mich nicht gefiel. 

 

Sein Name war Dave und er war 55 Jahre alt. Wir lernten uns im Internet kennen. Dave war interessant, zuvorkommend und klug. Er hielt meine Hand und machte mit mir lange Fahrradtouren. Er fuhr viele Kilometer, um mich zu besuchen. Er kochte für uns und kraulte den Kopf meines Hundes. Ich war verzaubert und wollte diesen Mann ganz und gar kennen lernen. Also planten wir, eine Wochenende gemeinsam zu verbringen. Da wurden die Dinge plötzlich kompliziert, unausgesprochen und irgendwie nicht richtig. Wir gingen miteinander ins Bett, wie es Liebende tun, unbekleidet und mit innigen Berührungen. Alle unsere Körperteile waren einander nah. Wir küssten uns und schliefen umschlungen ein. Ich wollte dieses Wochenende noch mehr Intimität, er wies mich jedes Mal ab.

 

Am Montagabend fragte ich diesen Mann, der drei Nächte mit mir das Bett geteilt hatte, am Telefon, warum wir uns nicht geliebt hatten. "Dein Körper ist zu faltig", sagte er ohne Zögern. "Ich hatte in den letzten Jahren nur junge Frauen. Du erregst mich einfach nicht. Ich liebe deine Energie und dein Lachen. Ich mag, was du im Kopf und im Herzen hast. Aber ich komme einfach nicht mit deinem Körper zurecht."

 

Ich war geschockt. Der Schmerz kam später. Ich fragte ihn langsam und vorsichtig, ob er meinen Körper unansehnlich fand. Er sagte ja. "Das heißt, es war unangenehm für dich, mich nackt zu sehen", fragte ich. Er sagte, er habe versucht, wegzuschauen. Und als das Licht aus gewesen sei, habe er sich vorgestellt, mein Körper sei jünger, dass ich jünger sei. Ich atmetet tief durch, als ich darüber nachdachte. Mein Gesicht glühte, weil ich mich schämte für die leichtsinnigen Momente, die ich mit ihm nackt verbracht hatte. Wir redeten noch ein wenig länger, während es in meinem Kopf über den Inhalt unseres Gesprächs ratterte. Er sprach von speziellen Strümpfen und von Kleidung, die mein Alter "verstecken" könnte. Er sagte mir unbekümmert, dass er das "kleine Schwarze" und Riemchen-Schuhe liebe. Er sagte, mein Haar sei nicht so lang und üppig, wie er es gerne habe. Aber das sei ok, weil es "ganz cool" aussehe.

 

Ich fühlte mich wie eine Barbie auf LSD, als ich diesem Mann zuhörte. Die Gemeinheit seiner Worte war ihm überhaupt nicht bewusst. Er wollte aus mir ein Objekt machen, das er so anziehen und platzieren kann, dass sein Ideal der weiblichen Sexualität befriedigt werden würde. Er sagte mir, dass wir jetzt, da ich wusste was nötig war, viel Spaß im Bett haben könnten. Ich sagte nein. Ich würde mich nicht vor meinem eigenen Körper verstecken. Ich würde nicht Outfits anziehen, die meinen Körper "erträglicher" machen. Ich würde mich nicht im Dunkeln ausziehen oder mit geschlossener Badezimmertür duschen. Ich würde mich nicht für ihn erniedrigen - oder für irgendjemand sonst. Mein Körper ist schön und er kommt zusammen mit meinem Geist und meinem Herzen. 

Als ich Dave sagte, dass ich ihn nie wieder sehen oder hören will, war er verwirrt und sagte, dass ich aus einer Mücke einen Elefanten machen würde. Er jammerte, dass ich einen so kleiner Teil unserer Beziehung zu so einer Riesensache machen würde. Ich wollte nicht mal versuchen, ihm den Schmerz und den Horror zu erklären, den er mit bereitet hatte. Dieser Mann tat mir furchtbar leid, als ich den Hörer auflegte.

Nach diesem Anruf ging ich ins Schlafzimmer und zog sachte meine Kleider aus. Als ich in den Spiegel schaute - mit klarem mutigen Blick - stand ich zu jedem Zentimeter meines Körpers. Und war dabei voller Liebe, Ehrgefühl und Zuwendung. Dieser Körper gehört zu mir. Er trägt seid Jahren meine Seele und mein Herz. Jede Falte und jeder Makel sind Zeichen meines Lebens und davon, dass ich Leben geschenkt habe. Mit Tränen in den Augen hielt ich mich selbst fest.


Ich dankte Gott für das Geschenk, das mein Körper und mein Leben sind. Und ich dankte einem traurigen Mann namens Dave dafür, dass er mich daran erinnert hat, wie wertvoll das alles ist.

Quelle: The HuffingtonPost

Marion Lampert-Gruber

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